Säkularismus in der Klimakrise – Welche Werte brauchen wir?

von Olivia Leth

Die Aufklärung hat uns von religiösen Dogmen befreit und diese durch die Wissenschaft und rationales Denken ausgetauscht. Große Denker wie Baruch de Spinoza, Bernard Mandeville oder John Locke haben im 17. Und 18. Jahrhundert moderne Überlegungen angestellt, für die sie zum Teil verfolgt wurden (vgl. Blom, 2017: S. 172 ff). Spinozas Idee, Natur wäre der wahrnehmbare Ausdruck der Attribute Gottes und würde aufgrund Gottes Unantastbarkeit, Gott selbst an die Naturgesetze binden, begründete unter anderem die Infragestellung der Religion durch religiöse Argumentation. Mandeville begründet in seinem Hauptwerk „Die Bienenfabel“ merkantilistische Ideen, wonach Gier, Egoismus, Eitelkeit und Luxus zum Vorteil der Gesellschaft, Genügsamkeit und Sparsamkeit hinderliche Tugenden seien. Schließlich wurde John Locke mit seiner Idee des Naturrechts, wonach jeder Mensch Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum und Gesundheit habe, als „Vater des Liberalismus“ bezeichnet.

Der Aufklärungsbegriff wird heute erneut von modernen Autoren aufgegriffen. Zuletzt von keinem geringeren als dem Club of Rome, der bereits in den 1970er Jahren in seinem Werk „Limits to Growth“ (Meadows et al., 1972) eine Warnung an die Menschheit formulierte, dass die Welt bei den gängigen Wachstums-Trends in einen ökologischen Kollaps rasen würde. In dem neuen Buch „Come on! Capitalism, Short-termism, Population and the Destruction of a Planet” (Weizsäcker et al., 2018) plädieren die Autoren für eine neue Aufklärung für eine „volle“ Welt – für eine Welt mit vervielfachter Population, vervielfachter Wirtschaftsleistung aber gleichbleibenden planetaren Grenzen. Die Menschheit stecke in einer philosophischen Krise: sie erkenne globale Probleme und stelle die richtige Diagnose, die Therapie mache die Situation aber noch schlimmer. Große Denker der Aufklärung hätten für eine „leere“ Welt geschrieben. Der Harvard Dozent und Autor, Steven Pinker, formulierte in demselben Jahr ein Gegenplädoyer, einen Lobgesang an die technische Innovation. In seinem Buch: „Aufklärung jetzt! Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt“ (2018) argumentiert er gegen Untergangspropheten und gegen Kritiker der Moderne von der politischen Linken bis zur politischen Rechten. Solange der vernunftbegabte Mensch denkt und forscht, hätte er nichts zu befürchten.

Die Forderung einer neuen Aufklärung beweist, dass übliche Erklärungskonzepte und Wertekodizes nicht mehr zu hundert Prozent anwendbar sind. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die gängigen Parameter wie Demokratie und Liberalismus stark infrage gestellt werden. Die Welt wird immer komplizierter, schneller, unvorhersehbarer, radikaler, autoritärer. Es ist nicht nur eine Krise der Politik und der Ökologie, es ist auch eine Krise des Glaubens. Die Menschen suchen in Zeiten der Digitalisierung, des Klimawandels und der Globalisierung vermehrt nach Symbolfiguren, nach einem Gott oder einem Politiker, denn sie verstehen nicht mehr, sie wollen folgen. Populismus und Nationalismus scheinen hier praktikable Lösungen. Sie bieten für globale Herausforderungen nationalen Erklärungen. Das Schaffen von Feindbildern vereinfacht, es entmenschlicht, es stumpft ab, es legitimiert Feindseligkeit.

Brauchen wir eine neue Religion? Einen Gott? Säkulare Werte in der Klimakrise.

Die Aufklärung brachte uns innovative Ideen, auf denen grundsätzliche Konzepte moderner Ökonomie, wie die unsichtbare Hand Adam Smiths, aufbauen. Der Kapitalismus, der daraus entstand, ist heute ein Problem. Welche Werte braucht dann heute die Welt? Müssen wir zurück zum Klerus? Der Säkularismus (definiert nach Harari, 2018: S.271 ff) wird oft – ähnlich dem Atheismus – als sehr passiv beschrieben, nämlich als etwas, woran man nicht glaubt. Doch Säkularisten erfahren ihn als aktive und positive Weltsicht, eine Sicht, die auf einem kohärenten Wertekodex baut. Viele dieser Werte findet man ursprünglich in diversen religiösen Schriften wieder, wie der Bibel oder der Tora. Was ihn von anderen Religionen oder Glaubenskonzepten unterscheidet, ist, dass der Säkularismus keinerlei Monopolanspruch auf Weisheit oder Richtigkeit erhebt. Er stellt seine „Anhänger“ nicht vor eine Entweder-oder-Entscheidung. Identitäten sind vielfältig und bunt. Ein Mensch kann muslimischen und christlichen Glaubens sein und definiert sich nicht rein durch die religiöse Zugehörigkeit. Der Moralkodex säkularer Menschen umfasst die Werte Wahrheit, Barmherzigkeit, Gleichheit, Freiheit, Mut und Verantwortung. Das säkulare Ideal baut auf der Idee der objektivierbaren, evidenzbasierten Wahrheit, anstatt auf bloßem Glauben. Säkularismus lässt die Wissenschaft hochleben die „die Menschheit in die Lage versetzte, das Atom zu spalten, das Genom zu entschlüsseln, die Evolution des Lebens nachzuzeichnen und die Geschichte der Menschheit zu verstehen“ (Harari, 2018: S. 173). Die zweite Hauptpflicht – Barmherzigkeit – gilt dem Mitgefühl und einem „tiefen Verständnis von Leid“ (ebd.) anstatt blindem Gehorsam eines Gottes. Des Weiteren verpflichten sich Säkularisten der Gleichheit. Gängige Hierarchien werden infrage gestellt, denn „Leid ist Leid, ganz gleich, wer es erfährt; und Wissen ist Wissen, ganz gleich, wer es entdeckt“ (ebd. S. 275). Sie verwechseln „Einzigartigkeit“ nicht mit „Überlegenheit“ (vgl. ebd.) und fallen so in keinen stumpfen Nationalismus. Sie verpflichten sich zur Freiheit, denn alle Menschen sollten frei sein zu prüfen, zu zweifeln, zu kritisieren, zu analysieren und zu hinterfragen. „Säkulare Bildung lehrt uns, dass wir, wenn wir etwas nicht wissen, keine Angst haben sollten, unsere Unkenntnis einzugestehen und nach neuen Beweisen zu suchen“ (ebd. S. 276). Wir sollten nie davor zurückschrecken unser Wissen zu hinterfragen und unsere Meinung zu ändern – das erfordert Mut und ist ein weiterer Grundbaustein der säkularen Weltanschauung. Schließlich verpflichten sich Säkularisten der Verantwortung. „Sie glauben nicht an irgendeine höhere Macht, die sich um die Welt kümmert, die die Bösen bestraft, die Gerechten belohnt […]. Deshalb müssen wir Sterbliche aus Fleisch und Blut die volle Verantwortung für all das übernehmen, was wir tun – oder eben nicht tun“ (ebd. S.277). 

Wie wichtig sind säkulare Werte in dieser Welt? Ist der Säkularismus die neue (Öko-)Religion? Wenn ja, ist Greta Thunberg der „Messias“?

Glaube ist heute wichtiger für viele Menschen der westlichen Hemisphäre als noch vor zwanzig Jahren. Ob sie an einen Gott glauben, oder an einen Politiker oder an eine Partei, ist eine Formalität. Es geht immer um das Abgeben von Verantwortung und der damit einhergehenden Passivität. Die Digitalisierung, die ökologische Krise oder die politischen Lager sind Herausforderungen, die neue Wertesysteme verlangen. Populismus und Nationalismus schlagen Werte wie Nationalstolz für eine solche Welt vor. Der Säkularismus bietet ein erfolgsversprechendes Gegenkonzept. Wieso gestehen wir uns nicht ein, nichts mehr zu verstehen, bilden uns weiter, tauschen uns aus, vertrauen auf die Wissenschaft, stehen mutig für evidenzbasierte Wahrheiten ein und zeigen Mitgefühl für andere? Für Menschen, die auf der Flucht aus Krisengebieten im Mittelmeer ertrinken, für die Milliarden Tiere, die für uns in Mastbetrieben sterben, für einen Aktivisten, der aus Angst vor einer Zukunft in der Klimakrise ein Wochenende lang eine Kohlegrube blockiert? Warum übernehmen wir dann nicht mutig die Verantwortung selbst, anstatt sie vom Konsumenten hin zur Politik, weiter zur Wirtschaft, zur Globalisierung oder letztlich zum Universum zu verschieben?

Greta Thunberg ist eine Symbolfigur, die wichtig und notwendig ist, um Massen zu mobilisieren wie man an der Fridays for Future Bewegung sieht. Sie vertritt die gesellschaftliche Mitte und macht vormals linke Forderungen gesellschaftstauglich. Greta überbringt eine unangenehme Botschaft und erntet damit polarisierende Reaktionen. Sie steht an der Spitze einer großen Bewegung, in der Jugendliche die Hauptrolle übernommen haben, anstatt fremdbestimmte Narrative einer Klimaschutzbewegung von Eltern, Politikern oder Lehrern aufgezwungen zu bekommen. Säkularisten würden sich wahrscheinlich gegen die Bezeichnung „Religion“ wehren, denn die Säkularisierung fordert genau das Gegenteil. Sie fordert die „Loslösung des Einzelnen, des Staates und gesellschaftlicher Gruppen aus den Bindungen an die Kirche“ (siehe: https://www.google.com/search?q=W%C3%B6rterbuch#dobs=s%C3%A4kularisierung). Demnach wurde auch Greta Thunberg nicht von Göttern entsandt, um uns alle aus der Klimakrise zu führen. Stattdessen ist sie die starke Gallionsfigur einer zivilgesellschaftlichen Bewegung, die sich bottum-up-Techniken bedient, um für eine entschlossenere Klimapolitik zu kämpfen.

Was wird uns von der Klimakrise „erlösen“? Verzicht, Neid und Gier.

Was uns erlösen wird, ist eine schwierige Frage und eine absichtlich provokante Formulierung. Braucht es überhaupt eine Erlösung und eine Rückbesinnung zu religiösen Werten und Normen? Vielleicht ist es ausreichend, die westliche Ignoranz abzulegen, Fehler einzugestehen, Alternativen zuzulassen, Gier und Neid zu hinterfragen und sich von Ängsten, es einmal materiell schlechter zu haben, zu beruhigen. Doch die Klimakrise sollte nicht nur durch die Linse des Einzelnen betrachtet werden. Jeder und jede Einzelne trägt Verantwortung für unsere Welt. Sich von besitzergreifenden Machtansprüchen und der Idee exklusiven Eigentums zu lösen, und diese Identifikationsmodelle durch Verzicht und Selbst-Restriktion zu ersetzen, ist notwendig, um den sozial-ökologischen Herausforderungen auf einer individuellen Ebene zu begegnen. Trotzdem ist die Linse, durch die wir die Klimakrise betrachten sollten, eine systemische. Ob man uns von der Klimakrise erlösen kann, ist eine Frage, die noch einige Generationen beschäftigen wird. Man kann uns zumindest von dem Zwang erlösen, weiter Teil eines Systems zu sein, das kalkulierte Ausbeutung betreibt und die Klimakrise anheizt.

Was bleibt uns also in der Glaubenskrise? Der Säkularismus fordert die Trennung von Religion und Staat und bietet statt einer Rückbesinnung zum Klerus ein Wertekonzept, von dem die Weltgesellschaft in der Klimakrise profitieren würde. Wer die Verantwortung für die Klimakrise übernimmt, braucht Mut. Wer sich ihr ernsthaft stellt, braucht die Wissenschaft (also Wahrheit). Wer Klimagerechtigkeit fordert, also die gleiche Verteilung von sozial-ökologischen Nutzen und Kosten zwischen dem globalen Norden und Süden, braucht einen Sinn für Gleichheit. Wer sich nach einer offenen, kulturell vielfältigen Welt sehnt, braucht Barmherzigkeit und ein Verständnis von Leid. Schließlich sind wir, die wir diesen Artikel schreiben und lesen, frei zu entscheiden, ob wir uns säkulare Werte für diese Welt wünschen, oder nicht.

Quellen:

Blom, P. (2017): „Die Welt aus den Angeln“; Verlag: dtv Verlagsgesellschaft

Harari, Y. (2018): „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“; Verlag: C.H. Beck

Weizsäcker et al. (2018): „Come on! Capitalism, Short-termism, Population and the Destriction of the Planet“; Club of Rome; Verlag: Springer

Pinker, S. (2018): „Aufklärung jetzt!“; Verlag: Penguin Books

Cammann (2018). „Sorge dich nicht, forsche“ unter: http://www.zeit.de. URL: https://www.zeit.de/2018/39/aufklaerung-jetzt-steven-pinker-buch-plaedoyer-moderne

Dufour (2017): „Nützlichkeit der Schurken“. URL: https://monde-diplomatique.de/artikel/!5461444

Mandeville (o.A.). „Der unzufriedene Bienenstock“; URL: https://homepage.univie.ac.at/charlotte.annerl/texte/bienenfabel.pdf

Stapelfeldt (2001): „Bernard Mandeville: ‘Private Laster, öffentliche Vorteile’(1705-1732)“. In: Stapelfeldt (2001). Der Merkantilismus: Die Genese der Weltgesellschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. URL: https://homepage.univie.ac.at/charlotte.annerl/texte/mandeville1.pdf

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